Berufung zum Ordensleben / gottgeweihten Leben und zum Priestertum
Was fehlt mir noch?
Eine Umfrage unter Leserinnen und Lesern einer katholischen Jugendzeitschrift (YOU-Magazin) ergab, dass es nicht wenige junge Menschen gibt, die sich die Frage stellen: „Bin ich zum gottgeweihten Leben oder zum Priestertum berufen? Wie kann ich das erkennen?“
Im Evangelium gibt es eine Begebenheit, die darauf wichtige Antworten gibt. Bei Matthäus finden wir diese Stelle im Kapitel 19, Verse 16 – 29. Sie berichtet von einem Gespräch zwischen Jesus und einem jungen Mann. Auch die Evangelisten Markus und Lukas haben uns dieses wichtige Gespräch überliefert. Hören wir Vers für Vers auf diese Worte nach dem Zeugnis des heiligen Matthäus.
Vers 16: Und siehe, da kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?
Bei diesem Mann handelt sich um einen jungen Mann, wie wir wenige Verse später erfahren. Er stellt sich bereits in jungen Jahren eine sehr wichtige Frage: Meister, wie erlange ich das ewige Leben? Das ist erstaunlich. Die Zahl junger Menschen, die sich schon früh diese Frage stellen, ist gewiss in der westlichen Welt nicht sehr hoch. Andere Fragen sind für viele junge Menschen wichtiger. Wie kann ich eine Karriere machen, Geld verdienen, eine Partnerschaft gründen oder mir ein angenehmes Leben leisten? Im jungen Mann, der sich an Jesus wendet, brennt diese Frage. Er hat Achtung vor Jesus und spricht ihn mit Meister an. Er spürt und hofft, dass ihm Jesus eine gute und richtige Antwort geben wird. Markus berichtet uns, dass der junge Mann vor Jesus auf die Füße fiel (Mk 10,17). Er kam also in ehrfürchtiger und demütiger Weise zu Jesus.
Vers 17 a: Er antwortete: Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist der Gute.
Zunächst geht Jesus nicht direkt auf die Frage ein, sondern verweist darauf, dass es nur einen gibt, der der Gute ist. Er meint den Vater im Himmel. Von ihm kommt alles Gute. Er ist Gutsein in Fülle, er ist die Liebe in Fülle. Mit ihm ist Jesus zutiefst verbunden und ganz eins. Demütig verweist Jesus den jungen Mann auf den himmlischen Vater.
Vers 17 b: Wenn du aber in das Leben eintreten willst, halte die Gebote!
Jetzt gibt Jesus eine eindeutige und klare Antwort. Der Weg zum ewigen Leben besteht in der treuen Befolgung der Gebote. Wer die Gebote hält, wird einmal eintreten in das ewige Leben. Der junge Mann begnügt sich aber noch nicht mit der Antwort Jesu und hackt nach.
Vers 18 a: Darauf fragte er ihn: Welche?
Er will ganz genau wissen, um welche Gebote es sich da handelt. Das Leben der gläubigen Juden in jener Zeit war geregelt von einer Vielzahl von Geboten. Deshalb ist die Frage des jungen Mannes nicht unberechtigt.
Verse 18 b und 19: Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!
Jesus verweist nun auf einige der zehn Gebote sowie auf das Gebot der Nächstenliebe. Es sind Hauptgebote gläubiger Juden von damals und gläubiger Christen zu allen Zeiten. Die Einhaltung dieser Gebote führt zum ewigen Leben. Der Fragesteller konfrontiert die Antwort Jesu mit seinem Leben und kommt zu folgendem Ergebnis:
Vers: 20 Der junge Mann erwiderte ihm: Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir noch?
Im Blick auf sein Leben bezeugt er: Ich habe mich an diese Gebote gehalten. Wir haben es hier mit einem seriösen jungen Menschen zu tun. Ihm gebührt Respekt!! Jetzt kommt eine zweite, sehr interessante Frage:
Was fehlt mir noch?
Der junge Mann spürt einen Mangel. Er möchte noch mehr tun, noch mehr geben. Die innere Erfüllung hat er noch nicht gefunden. Eine innere Unruhe erfüllt sein Herz, sein Denken und sein Suchen. Er hat noch nicht den inneren Frieden gefunden. Die Sehnsucht nach mehr drängt ihn, Jesus aufzusuchen.
Vers 21: Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen; und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach!
Jesus versteht ihn durch und durch. Er spürt: Der junge Mann sehnt sich nach Vollkommenheit. Mit dieser Vollkommenheit ist gewiss nicht das gemeint, was man heutzutage als Perfektionismus bezeichnet. Jesus erwartet kein fehlerloses Leben. Wer wäre dazu fähig? Es geht hier um die Vollkommenheit in der Liebe.
Ganz berührend ist das, was uns Markus berichtet: „Da sah ihn Jesus an, umarmte ihn und sagte…“ (Mk 10,21). Jesus liebt diesen Mann aus ganzem Herzen. Er blickt ihm tief in die Augen. Ja, noch mehr: er umarmt ihn. In anderen Übersetzungen heißt es: Er gewann in lieb. Er liebkoste ihn.
Was ist wohl in diesem jungen Menschen vor sich gegangen, als ihm Jesus tief in die Augen schaute und er die Umarmung Jesu spürte? Hinter dieser Geste steht etwas Großes: Jesus hat ihn ganz in sein Herz geschlossen. Die Erwählung dieses jungen Mannes ist ein besonderes Angebot der göttlichen Liebe, die nun beantwortet werden soll. Damit diese Liebe Jesu aber volle Wirklichkeit wird, stellt Jesus eine Bedingung: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen; und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm, folge mir nach!“
Jesus ruft ihn, den er zutiefst liebt, dazu auf, sich von seinen Gütern zu trennen, innerlich frei zu werden und den Besitz den Armen zu geben. Ohne eine Loslösung, ohne einen großen Verzicht kann man nicht in die besondere Nachfolge Jesu eintreten. Bei diesem jungen Mann war es materieller Besitz. Es kann auch anderes sein: Verzicht auf eigene Lebensprojekte; Verzicht auf das Glück von Ehe und Familie; Verlassen der Heimat, der engeren Heimat, der Familie, der bisherigen Lebenswelt; Verzicht auf eine schöne berufliche Tätigkeit, auf Hobbies usw.
Dem Verzicht, der natürlich in ganzer Freiheit geleistet werden soll, steht etwas Großes gegenüber: die Nachfolge Jesu, der Eintritt in eine beglückende und innige Gemeinschaft mit Jesus. Folge mir nach!, sagt Jesus. Geh mit mir, bleibe bei mir, entdecke und trete ein in mein Leben, in meine Liebe.
Vers 22: Als der junge Mann das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen.
Der junge Mann hat den großen Sprung nicht gewagt. Die Bindung an das große Vermögen war stärker. Er ging traurig weg. Gemeint ist wohl ein gewisses Unerfülltsein, eine nicht gestillte Sehnsucht.
In den darauffolgenden Versen 23 – 28 spricht Jesus ausführlicher von den Gefahren des Reichtums. Der Abschnitt des Evangeliums endet mit einer großen Verheißung:
Vers 29: Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben erben.
Auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift war schon einmal von einem Verlassen die Rede. „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau. Und die beiden werden ein Fleisch (Gen 2,24)“ Aus einem Verlassen wir eine neue Liebesvereinigung.
Hier spricht Jesus ebenfalls von einem Verlassen. Es geht um das Verlassen der bisherigen Lebenswelt, um in eine neue Beziehung einzutreten, in eine intensive Liebesbeziehung mit Jesus Christus. Sie bringt hundertfachen Gewinn. Wenn Gott gibt, gibt er in Überfülle. Er gibt hundertfach zurück, was man um seinetwillen aufgegeben hat. Er gibt es bereits in dieser Welt, und er schenkt in der künftigen Welt das ewige Leben.
Was fehlt mir noch? – Er umarmte ihn. – Geh und verkauf deinen Besitz. – Folge mir nach.
Fassen wir die Botschaft dieser Evangeliumsstelle kurz zusammen: Alle sind zum ewigen Leben berufen. Der Weg dorthin ist der Weg der zehn Gebote. Mit einzelnen Menschen hat Gott darüber hinaus einen besonderen Plan. Er erwählt sie und umarmt sie. Er ruft sie: Komm und folge mir nach. Diesem Ruf von außen entspricht eine Sehnsucht im Inneren, ein Verlangen nach mehr. Was fehlt mir noch? Dieses „Mehr“ besteht in einer intensiven Lebensgemeinschaft mit Jesus. Sie erlangt man durch einen großen Verzicht, der das Herz frei macht für die große Liebe Jesu. Jesus fordert, aber er gibt das Hundertfache hier auf Erden und das ewige Leben. Er erweckt eine Sehnsucht, und er stillt sie mit der Überfülle seiner Liebe.
Junge Menschen, die diese innere Unruhe spüren, sollten sie ernst nehmen. Sie regt sich beim Gebet, in der Stille, in der Begegnung mit glücklichen gottgeweihten Männern und Frauen, im Gespräch mit zufriedenen und treuen Priestern, bei der Lektüre der Biografie von Heiligen usw. Wenn sie immer wieder kommt, wenn man sie „wegschiebt“ und sie kommt dennoch wieder, dann ist sie meistens vom Heiligen Geist. Wenn Gott eine Türe öffnet, warum sollte man sie nicht durchschreiten?
P. Peter Willi FSO